April 6, 2017
Vor einigen Wochen war ich auf einem Impulsvortrag und hörte von einer Frau zu anderen Frauen "du musst deine Komfortzone verlassen". Ich mochte den Spruch noch nie, doch konnte ich bisher nicht formulieren, was mich daran stört.
Bis zum Erstellen dieses Textes. Es hat einige Tage in mir gebrodelt und plötzlich war alles glasklar: Ich möchte jetzt mal folgendes klarstellen: wenn Frauen ihre Komfortzone verlassen, bedeutet das was grundlegend anderes, als wenn Männer ihre K-Zone verlassen. Recherchiert bitte mal kurz im Internet folgendes "Komfortzone verlassen" und klickt kurz auf die ersten drei Ergebnisse (dann kommt ihr aber bitte hierher zurück). Bei mir waren es diese folgenden Ergebnisse:
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- Die Macht deiner Gedanken, oder wie du sofort bekommst was du willst
- Wirklich gut investierte Minuten in Deine persönliche Weiterenwicklung. Ich hatte schon ein mulmiges Gefühl in der Magengegend beim Blick in den Canyon der unter mir lag – und fragte mich, warum ich die steile 20 Meter hohe Felswand überhaupt hinaufgeklettert war…
- Männlichkeit stärken.
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Jetzt eben spontan, aber auch bei meiner letzten Recherche waren es Blogs und Coaching Sides von Männern, die anderen Männern den Weg zeigen ihre Wunschträume zu erfüllen. Sei es das "fremdakquirieren von Frauen" oder sonstige wagemutigen sportlichen oder sonstige Unternehmungen (wie bspw. "Singe laut in der Öffentlichkeit"), die für mich alle im Bereich "nice to have" anzusiedeln sind und nach deren Bedarfsdeckung mir auch nicht ist.
Aha dachte ich. Bei Männern geht es also um Erfolg, Mut beweisen, Frauen ansprechen, über Kohlen laufen und Bungee Jumping (kurz: Adrenalin). Bei Frauen geht es um ... hmm ???
Inzwischen glaube ich fast sicher sagen zu können: die Frauen-Komfortzone etwas anderes meint und ist wie die Männer-Komfortzone. Männer müssen ihre verlassen, Frauen müssen sich die ihre jedoch schaffen.
Wenn ein Mann seine Komfortzone verlässt, macht er was für seine Karriere oder in egozentristischer Weise für sich persönlich, oder bringt sein Adrenalin mal wieder zum brodeln.
Wenn eine Frau ihre Komfortzone verlässt, macht sie auch was für sich aber eben ein Stück weit anders. Sie ist gezwungen dazu, oder sie hält es nicht mehr aus. Es hat aber in der Regel nichts mit Grenzen-austesten, Perspektivenwechsel oder dem Wunsch nach Persönlichkeitsentwicklung zu tun, sondern entsteht aus blanker Not und Verzweiflung. Sie müssen es tun, da sie es nicht mehr aushalten oder dazu gezwungen werden. Jedenfalls brodeln hier andere Stresshormone wie Adrenalin.
Was ich meine mit NICHT mehr aushalten oder gezwungen werden? Das zum Beispiel:
Sie verlassen Eigenheime die Ihnen sowieso nicht gehören, sie verlassen Ehemänner, die 80 Prozent des Einkommens erworben haben. Weil ihre Männer selbstgerecht, eitel, gewalttätig oder sonst was waren. Meistens nehmen sie die Kinder mit, jedoch nicht den Rentenanspruch und sonstige Leistungen. Manchmal werden sie auch verlassen, dann ist ihre Situation aber die selbe.
Sie verlassen auch zuhauf Unternehmen (oder müssen), da diese sie wahlweise vor oder nach dem Mutterschutz auf's Abstellgleis schieben oder da ihnen später dann keine Karriere-Perspektiven, keine Entwicklungsmöglichkeiten in Aussicht gestellt werden, bzw. diese einfach kurzerhand an jüngere, neu eingestellte Kollegen vergeben werden.Die wenigsten verlassen ihre bisherige K-Zone wegen eines knackigen jungen Liebhabers, der so unglaublich vernarrt in die Frau ist und bereit ist sie und ihre Kinder auf dem weiteren Weg zu begleiten. Oder weil ihnen just jetzt gerade in den Kopf gekommen ist, doch mal den Mount Everest oder die Zugspitze besteigen zu wollen.
Noch weniger wegen eines Arbeitgebers, der ihnen wie der letzte und der vorletzte, mal wieder verspricht, dass Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder Diversität ganz oben auf seiner To-Do-Liste steht. Was es dann doch nicht tut.
All diese Frauen verlassen ihre "what-ever-K-zone" und stellen sich immer wieder neu den Herausforderungen. Mehrmals in ihrem Leben, ohne es jemals so zu benennen (da hab ich doch letztes Jahr mal wieder meine K-Zone verlassen um ...). Auch sie entwickeln sich dadurch und werden stärker, die Wege unterscheiden sich jedoch komplett von den Trips auf denen sich die männlichen Komfortzone-verlassenden Kollegen befinden.
Komfortzone verlassen für Männer bedeutet ein beibehalten ihres linearen Weges hinsichtlich Job und Karriere. Bei Frauen sind es oft meist komplette Brüche zur Familie, Job, Geld, Sicherheit und Karriere. Frauen wandern beim Verlassen der vermeintlichen Komfortzone oft in die Überforderung, Einsamkeit, Dauerstress und Altersarmut.
Also wenn Frauen, diesen in der Männer- und Coachingwelt entstandenen Spruch für sich bspw. In einem Vortrag, in Anspruch nehmen, sollten Sie bitte mal kurz innehalten und nachdenken woher die Haltung kommt und was sie bewirken soll: Sie transportiert eine "Chaka-die-Welt-gehört-mir"-Meinung eines Management von gestern, hat aber gar nichts mit unserem heute von kurzen Lebensstationen und individuell geprägten Lebensentwürfen zu tun.
Die meisten Komfortzonen der Menschen setzen sich doch heute wie folgt zusammen:
a. haben sich noch nie in der Komfortzone befunden
b. sind in der Situation sich diese eher zu schaffen, da sie noch nie eine hatten
c. befinden sich in einer guten Ausgangsposition und das Verlassen der Komfortzone stellt nur ein geringes Risiko dar
Die "Bungee-Jump" und "hach-geiles-Coaching-hat-ich-da-mal-wieder"-Frau und-Mutter, gehört immer noch zu einer äußerst seltenen Spezies, so in etwa wie die sehr niedliche Schwanzmeise (die gibt es wirklich, ist aber sehr, sehr selten und jetzt muss ich selbst kurz kichern).
Also immer gut überlegen, bevor man solche Sprüche auf "Zuhörer" überstülpt. Es passt nicht immer und ich persönlich, schalte spätestens hier in den "Shit, kein Bock mehr zuzuhören"-Modus. Obwohl ich noch nicht einmal betroffen bin, da ich aufgrund der oben beschriebenen beruflichen Gründen schon mehrfach die K-Zone verlassen musste und mir dies unter anderem beim Schreiben dieses Textes bewusst wurde. Ebenso bewusst, wie der Reifeprozess und die Stärkung meiner Persönlichkeit, die damit einhergegangen ist.
Wenn ihr also diesen oder einen ähnlichen Spruch in eure Präsi/Vortrag mit einbaut, dann stellt bitte kurz sicher, dass keine Frau im Publikum sitzt, die ihren Partner vor kurzem verlassen hat oder von ihm verlassen wurde, oder deren Firma dachte "auf dich können wir gerne verzichten", und die derzeit weder wissen wo vorne noch hinten ist und wie und wovon sie in Zukunft leben sollen, denen schon dreimal nicht in den Kopf kommt jetzt auf bspw. den Albmarathon zu trainieren, oder mit einem ihrer männlichen jüngeren Liebhaber am Abend ausgefallene Sex- und Fesselspiele zu testen. Diese Frauen nämlich, müssen sich ihre Komfortzone erst einmal wieder schaffen, bevor sie diese, wenn sie mögen, wieder verlassen.
Ist dies nicht der Fall, könnt ihr gerne eure glühenden Holz-Kohlen auspacken (helfe gerne dabei) und alle die ihre Grenzen austesten wollen und sofort ihre Komfortzone verlassen möchten, nackten Fußes darüber zu peitschen (helfe gerne dabei). Nehmt dann euer angemessenes Honorar (Min. 1000 Euro pro Eierkopf) in Anspruch und gebt mir 300 davon für's Kohlen anzünden und 300 für's darüber peitschen.
Das war jetzt sozusagen die Xtrem Form. Gehässig, böse und mit spitzer Zunge geschrieben.
Es gibt aber auch noch diese Seite: nicht jeder Mensch ist geeignet dafür die K-Zone zu verlassen. Es hängt individuell mit dem persönlichen Bedürfnis nach Sicherheit und Routine zusammen. Es gibt ein "zwischen" Authismus und "Nicht-Authist", die ein großes Bedürfnis an Routine und gelebter Normalität haben.
Schön dargestellt in der Serie "Mord mit Aussicht", wenn Dietmar (Bjarne Mädel) mit Muschi (Petra Kleinert) vor dem Fernseher sitzt und sie sich gemeinsam eine "schöne Tiersendung" ansehen. Nicht für Dietmar und Muschi, aber für viele andere bedeutet dieser ständige Aufruf zum Verlassen der Komfortzone Stress und ist verwirrend. Muss ich oder kann ich? Für sie kann Routinen zu durchbrechen bedeuten Unsicherheit in ihr Leben zu bringen. Vielleicht aber auch kurz danach die Routinen doch wieder aufzunehmen, weil sie sich einfacher wohler damit fühlen. Recht haben sie. Und wir Menschen sind so und irgendwie ist das doch auch gut so, oder?
Ich mag jetzt nicht darüber urteilen ob es ein glückliches Leben ist oder nicht. Denkt jetzt mal bitte kurz an die wortlosen, rührenden 7 Minuten von dem Disney-Film "Oben". Als das Leben von Carl und Elli gezeigt wird. Auch nach dem 100x angucken werden mir still und leise die Tränen über die Backen kullern. Weil Routinen und Normalität so wunderbar schön sein können.
In meiner letzten Firma, gab es eine Regelung, die ermöglichte Freitags um 13:30 Uhr Feierabend zu machen. Das war ab diesem Moment passé, als in der Firmenphilosophie auftauchte "ihr müsst eure Komfortzone verlassen" (natürlich auf Englisch). Eine Kollegin die schon lange im Unternehmen war, meinte zu diesem Punkt und vielen anderen Punkten irgendwann: "jetzt haben sie uns das letzte genommen, was für uns Mitarbeiter an dieser Firma toll war". Ich konnte sie gut verstehen, waren wir doch plötzlich umgeben von Kollegen für die ein Termin Freitagabend 17:00 Uhr, kein Problem war.
Nicht jeder ist für das "große" Ding gemacht, wer große Räder dreht, erhält meine Bewunderung, voll und ganz. Immer, jederzeit. Noch mehr bewundere ich Menschen, die trotz ihrer Größe alle anderen die nicht vergleichbares tun, auf Augenhöhe begegnen. Ich bewundere aber auch jeden Menschen, der mit sich und seiner Welt zufrieden ist, so klein sie vielleicht auch auf den ersten Blick erscheinen mag. Entdecke ich was sich dahinter verbirgt, bin ich voller Ehrfurcht und Freude. Das ist vielleicht auch eine gewisse Art Demut und Bescheidenheit die das "Alter" so mit sich bringt.
So. Das war es zu diesem Thema. Im Grunde genommen, ist mir einfach daran gelegen, nicht irgendwelche Aussagen oder Sprüche sinnfrei zu übertragen und zu nutzen, ohne sich mit diesen vorher auseinanderzusetzen, woher sie kommen und was sie bedeuten. Ich werde in Zukunft noch mehr darauf achten.
Ihr alle könnt mehr.
Es grüßt euch
Gabriele